Gesellschaft ohne Arbeit?
Intellektuelle aus Ost und West, die aus
linkschristlichen Gruppierungen stammen, haben in einem mehr als zweijährigen
Diskussionsprozess an einer Stellungnahme zur wachsenden Massenerwerbslosigkeit
in der postindustriellen Gesellschaft gearbeitet. Seit November 2004 liegt
einer interessierten Öffentlichkeit das Ergebnis vor.
In vier Schritten versucht das Memorandum eine
Annäherung an das in Medien und Politik vieldiskutierte Problembündel, wobei
handfeste Vorschläge nicht gescheut werden.
Der erste Teil - Analyse des gegenwärtigen
Arbeitsmarktes - räumt vor allem mit der Lüge vom fehlenden Wachstum auf.
Ziehen doch immer noch Politiker und Wirtschaftsideologen durchs Land und behaupten,
bei energischem Ankurbeln der Wirtschaft gäbe es bald wieder so etwas wie eine
Vollbeschäftigung. Das Ankurbeln wird "natürlich" nur erreicht, wenn
das Arbeitsrecht weiter dereguliert, die Löhne gesenkt, die Arbeitszeit erhöht
wird und wie diese durchsichtigen Profitargumente noch so lauten. Im Memorandum
wird dagegen eindeutig festgestellt, dass nach der dritten industriellen
Revolution durch technologischen Fortschritt, wachsende Automatisierung und
Vernetzung der Gesellschaft immer weniger Erwerbsarbeitsplätze zur Verfügung
stehen werden, zumal wir uns in den Industriestaaten in einer Überproduktionsphase
befinden. Millionen von Erwerbslosen – deren Zahl 2012-2015 die zehn Millionen
in Deutschland überschritten haben wird - muss der durch die Wirtschaftslobbyisten
in den Regierungen ausgehöhlte und verarmte Staat durch seine Sozialpolitik
"über Wasser halten".
Im zweiten Teil des Memorandums – Reformen
innerhalb des kapitalistischen Systems – werden bekannte und weniger
diskutierte Vorschläge zur Verbesserung der Situation auf dem Arbeitsmarkt, der
öffentlichen Haushalte und der Demokratie auch in der Wirtschaft gemacht. Von
Arbeitszeitkonten, Sabbatjahr und Verkürzung der Arbeitszeit, über Vermögens-,
Erbschafts-, "Tobin-", "Maschinen-" und Luxussteuer zu
gleichberechtigter Mitbestimmung, Förderung von Genossenschaftsmodellen, der
Beteiligung der Belegschaft am Betriebskapital u. s. w.
Der dritte Teil – Wirtschaftliches und soziales
Handeln der Kirchen – will zeigen, dass die Kirchen von ihrer Weltanschauung
und ihrem Menschenbild her, vorbildlich als zweitgrößter
Arbeitgeber in Deutschland mit der menschlichen Arbeitskraft wie mit den
finanziellen Ressourcen umgehen müssten. Ob sie weiterhin wie andere
Einrichtungsträger auch, Krankenhäuser, Senioren- und Behindertenwohnstätten
betreiben sollten, fragt das Memorandum, oder ob es nicht gerade ihre Aufgabe
wäre, in den sozialen Lücken – Aidshilfe, Sterbehospize, Wohnstätten für
schwermehrfachbehinderte Menschen u.a. – selbstlos zu wirken. Auch die Frage
nach der Berechtigung des Erhalts von Steuergeldern, die aus der 200 Jahre
zurückliegenden Säkularisierung von Kircheneigentum abgeleitet wird und der
Umgang mit Grund und Boden, dessen Eigentümer die Kirchen in einem großen Maße
sind, für soziale Wohnprojekte und mit dem Verzicht auf
Immobilienspekulationen, wird angesprochen.
In einem vierten Teil – die Erhaltung des
Sozialstaates erfordert eine Neuordnung des Wirtschafts- und Sozialsystems von
Grund auf – stellt sich das Memorandum die entscheidende Frage der Zukunft:
Wenn alle Reformen und Reförmchen nicht die weitere Verarmung immer größerer
Teile der Weltbevölkerung, aber auch der Menschen innerhalb der
postindustriellen Gesellschaften verhindern, woher nimmt die Gesellschaft dann
die Finanzmittel, um die Millionen von erwerbslosen Menschen in ihrer Existenz
abzusichern? Die Verfasser des Memorandums beschreiben ein mögliches
demokratisches Gesellschaftsmodell neben Kapitalismus und
Staatssozialismus, welches in der Lage ist, die Millionen von Erwerbslosen zu
alimentieren, damit sie für sich und andere in der Gesellschaft kontrollierend,
mitregierend, unterstützend, pflegend, erziehend tätig sein können.
"Wenn heute in den unterschiedlichsten
politischen Lagern eine so einmütige Zustimmung zur Politik der Privatisierung
und völligen Liberalisierung des Marktes zu beobachten ist, wo doch nach 1945
alle, wenn auch mit verschiedenen Ansätzen in eine solidarische Gesellschaft
aufbrechen wollten, dann ist die Politik anscheinend immer mehr eine Gefangene
des alles beherrschenden modernen Kapitalismus geworden und hat ihren
gesellschaftlichen Gestaltungsauftrag aufgegeben. Sie ist so zum Handlanger
einer von Kapitalinteressen geleiteten Ideologie geworden, bei der das Geld -
wie es bei Leitbildern aller anderen Ideologien auch üblich ist - zum
Selbstzweck wird. Offenbar hat die Politik sich von dem als alternativlos
dargestellten Gesetz des Kapitalismus, der totalen Vermarktung um des Gewinnes
willen und der daraus folgenden neoliberalen Ideologie, in Zugzwang bringen
lassen.
Begründet wird dieser Zwang häufig mit dem
“einzig wahren”, weil “realistischen” Menschenbild, dass der Mensch eben von
Natur aus Egoist sei. Der Kapitalismus trage diesem Menschenbild Rechnung.
Dieses Menschenbild ist jedoch genauso einseitig wie das des Staatssozialismus,
das sich ganz auf die durch Erziehung zu fördernde altruistische Veranlagung
des Menschen beruft. Dabei dient der einseitig postulierte Egoismus als
menschliche Grundanlage lediglich zur Begründung ganz aktueller, alltäglicher wirtschaftspolitischer
Maßnahmen. Die Menschen werden aufgefordert zu mehr Eigenverantwortung mit dem
Hinweis, dass jeder das Lebensrisiko selbst zu tragen habe. Diese Einstellung
(auch häufig als Selbstverwirklichung postuliert) führt zur Überbewertung des
Habens gegenüber dem Sein und vernachlässigt den Blick auf das alles tragende
Gemeinwohl mit Folgen auch für die Mitwelt.
Einseitige Antworten auf die Frage, was der
Mensch denn sei und brauche, treffen nie den ganzen Menschen und
die Eine Welt...
Ein Ordnungsrahmen, der auf den ganzen,
immer zugleich egoistischen und altruistischen Menschen setzt, und die ganze
Welt berücksichtigt, die vielfältiger als die wirtschaftliche Effizienz des
Kapitalismus ist, überlässt nicht nur einer Seite jegliche Gewalt. Eine
einseitige Verteilung der wirtschaftlichen Vormacht des Eigentums fördert
entweder den Egoismus im kapitalistischen System oder die im staatssozialistischen
System sich altruistisch gebärdende Heuchelei, von Volkseigentum zu sprechen.
Die Schäden solcher Einseitigkeiten bezahlt die ganze Menschheit und die Natur.
Was im politischen Handeln durch die parlamentarische Demokratie mit dem Mittel
der Gewaltenteilung ansatzweise verwirklicht wird, sollte auch auf das
wirtschaftliche Handeln angewendet werden. Denn es scheint nur plausibel, auch
die wirtschaftliche Welt nicht einseitig entweder der privaten oder der
gesellschaftlichen Seite zu überlassen, sondern die mit Eigentum immer
verknüpfte Macht produktiv zweizuteilen: Was typisch gesellschaftlich oder gesellschaftlich
bedingter Natur ist, muss in gesellschaftlicher Hand sein. Was Engagement
benötigt und nur im Wettbewerb funktioniert, das Unternehmertum, gehört in
private Hand in der Vielfalt praktischer Ausgestaltung von ganz privatem über
genossenschaftliches Eigentum bis hin zu Aktiengesellschaften.
Demnach käme einerseits Grund und Boden und die
Mehrwertbildung der Geldwirtschaft in gesellschaftliche Hand, andererseits
könnte das Unternehmertum mit den Produktionsmitteln schöpferisch, innovativ
privat agieren.
Momentan haben wir es
mit der einseitigen Vormacht des den Egoismus fördernden Kapitalismus zu tun.
Dieser muss in die gesamtgesellschaftliche Verpflichtung der Wirtschaft
eingebunden werden - und dies gelingt offensichtlich nicht allein mit den
Mitteln der Steuerpolitik. Die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik
erfordert gerade im Zeitalter der Globalisierung, dass das Eigentum als die
Grundlage für die Wirtschaftsmacht nicht ausschließlich in einer Hand sein
darf, weder allein in der gesellschaftlichen noch allein in der privaten.
Langfristig würde es der Gesellschaft durch die eigene wirtschaftliche Potenz
aus Bodenrente und den Mehrwerterträgen aus dem Geldverkehr möglich, die durch
alle Kräfte und Generationen gemeinsam erwirtschaftete Produktivitätssteigerung
so einzusetzen, dass eine bedarfsdeckende Grundsicherung für die wachsende Zahl
der Erwerbslosen, eine solidarische Gesundheitsfürsorge und Altersvorsorge für
alle entsteht. Wenn zum Beispiel die Erlöse aus der Bodenpacht den Grundstock
für einen Sozialstaat neuer Ordnung bieten würde, wäre das auch ein
sinnfälliger Ausdruck dafür, dass die Erde uns allen gehört.
Die dazu nötigen Schritte zur Überführung von
Grund und Boden in gesellschaftliches Eigentum auf dem Entschädigungswege können
behutsam auf der Grundlage von Artikel 14 und 15 des Grundgesetzes gegangen
werden. Gleiches gilt von der Vergesellschaftung des Mehrwertes, der aus dem
Geldverkehr entsteht, aber ohne eine tätige Gesellschaft nicht entstehen
könnte. Die Veränderung dieser beiden miteinander in Beziehung stehenden
Eckpunkte der Wirtschaft ist auf demokratischem Weg möglich, wenn für die
Mehrheit erkennbar wird, dass sie selbst es in ihrer Gesamtheit ist, die für
die Vermehrung des Reichtums einer Minderheit arbeitet und dass in der
Kapitalwirtschaft und daraus erwachsenden Kapitalherrschaft zwangsläufig die
Reichen reicher und die Armen ärmer und immer zahlreicher werden. - und vor
allem, dass dies zur Zerstörung einer humanen Gesellschaft und unserer Mitwelt
führt." (Memorandum S.79-83)
Klaus Körner
(das Memorandum ist unter
folgender Adresse erhältlich: Monika Doberschütz, Max-Metzger-Str.6, 04157
Leipzig)