(
aus: Halbfas, Religion, Stuttgart - Berlin 1976, S. 32 - 34 )
Religiöse Erfahrungen
finden sich in allen Religionen der Welt, doch nirgendwo als Massenphänomen,
sondern als der mehr verkannte und verdrängte Besitz von Mystikern, die nie im
Zentrum ihrer Religionsgemeinschaft gestanden haben.
Heute
wie gestern zählen die Religionen ihre Gläubigen millionenfach, nach wie vor
zeigen die Menschen sich glaubenswillig – aber nur wenige finden Zutrauen zu
ihren eigenen Möglichkeiten, wagen es, Glaubenssätze zu befragen und auf
die Geschichte ihres Lebens zu beziehen.
Noch
seltener allerdings gelangen Menschen zum Glauben mit und durch ihre
Erfahrungen.
„Paulus von Tarsus wurde am
Genick gepackt, in den Abgrund geworfen und für drei Tage geblendet“. Diese
direkte Erfahrung war in sich gültig.
Von
den vielen, die solche Erfahrungen nicht machen, weil sie entfremdet leben und
(fast) alle spirituelle Kraft verloren haben, erwartet man nur noch, dass sie
Glauben haben. Durchweg leisten sie auch diesen Glauben, wenngleich im Rahmen
des gesellschaftlich Plausiblen und meist einer anerkannten Autorität wegen,
die alle Bedingungen und Inhalte vorlegt.
Aber
nur selten wird bedacht, dass dieser Glaube Vertrauen in eine Realität
bedeutet, die nicht evident ist.
Evidenz
meint hier eine Wirklichkeit, die betroffen macht und derer man nicht nur
intellektuell, sondern auch emotional bis in die Mitte seiner Existenz inne
wird. Evidenzerleben schließt deshalb immer Sinnerfahrung ein. Allein hier
liegt „die Basis der Unerschütterlichkeit des Glaubens und seines Wachstums“.
Oft
signalisiert die Bereitschaft zu dogmatischen Antwortsystemen und die Anpassung
an den traditionellen Kult nicht Zunahme, sondern Abnahme ursprünglicher
Religiosität.
Die
Teilnahme an religiösen Veranstaltungen, selbst eine nur äußerliche Teilnahme,
gibt unselbständigen Leuten ein gewisses Maß an Sicherheit, besonders wenn sie
damit auch öffentlichen Erwartungen entsprechen; aber solche religiöse Praxis
kann wirkliche Religiosität eher niederhalten als entwickeln helfen.
Es
ist besser, dass sich Menschen der Dürftigkeit konventionalisierter Religion
bewusst werden und darauf verzichten, als dass sie Tradition und Religion
gleichsetzen, sich mit leblosen Antworten begnügen und die Suche nach
letztverbindlichem Sinn aufgeben.
Das
Eingeständnis, von den Angeboten einer religiösen Institution nicht mehr leben
zu können, kann die Wendung zu eigenen religiösen Möglichkeiten werden.
Die
Betonung des Evidenzerlebens und der Erfahrung wird innerhalb der westlichen
Religionen, zumal von den christlichen Kirchen, unterschiedlich aufgenommen.
Verständlicherweise
urteilen die dogmatisch–juridisch geprägten Richtungen einschränkend bis
ablehnend darüber, weil sie die Einweisung des Subjekts auf einen Weg der
Erfahrung und kalkulierbaren Freiheit als Bedrohung ihres eigenen Systems
empfinden.
Die
mystischen Richtungen hingegen leben von Evidenzerfahrung und fundierter
Subjektivität, ohne die der Glaube seine Glaubwürdigkeit verliert.
Ein
Überliefern und Bezeugen des Glaubens setzt immer die Abenteuer eigener
Wanderschaft voraus.