Militarisierung der Außenpolitik?
Besorgte Bürger fordern eine Diskussion zur zukünftigen internationalen Rolle der Bundesrepublik
12 Thesen
über falsche und richtige Zielpunkte für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik.
Mit der Entscheidung des Deutschen Bundestags am 16. November 2001 über den
Einsatz deutscher Streitkräfte im „Krieg gegen den Terror" - der Krieg, der von der
US-Administration zur militärischen Durchsetzung und Sicherung langfristiger strate-
gischer Ziele benutzt wird - ist der Weg zu einer neuen deutschen Militärdoktrin
geöffnet worden, die eine qualitativ neue globale Rolle der deutschen Außen-
politik und damit der Bundesrepublik Deutschland einleitet:
Indem als ständiges potentielles Einsatzgebiet der Bundeswehr, insbesondere auch
der Bundesmarine, neben dem NATO-Gebiet nicht nur die unmittelbare europäische
Randzone, sondern auch der gesamte Raum „arabische Halbinsel, Mittel- und Zen-
tralasien und Nord-Ost-Afrika, sowie die angrenzenden Seegebiete" festgelegt wird
und dies offensichtlich auch zum Zweck der Absicherung einer profitablen Nutzung
von Naturressourcen (Öl) in diesem Raum, reiht sich die Bundesrepublik unein-
geschränkt in die westliche Global-Strategie der massiven militärischen Res-
sourcen-Zugangssicherung ein.
Für die zur Zeit einzige Supermacht USA und für die weiterhin an ihre Geschichte als
Kolonialmächte und an ihre globalen Interessen gebundenen europäischen Nu-
klearmächte mag diese Strategie gegenwärtig als „normale Politik" erscheinen. Die
deutsche Außenpolitik verspielt mit einer solchen Militärdoktrin wesentliche Spiel-
räume für deutsche Vermittler- und Brückenfunktionen, die im europäischen und im
deutschen Interesse liegen und die angesichts der Gefahren sich zuspitzender Kon-
frontationen für alle Seiten von wachsender Bedeutung sind.
Die derzeitige internationale Entwicklung ist geprägt durch fortschreitende Aushöh-
lung und Destruktion der Grundlagen unserer internationalen Ordnung: Durch global
wachsende Militarisierung der Außen- und Sicherheitspolitik (zunehmendes Gewicht
militärischer Machtprojektion), durch Aushöhlung und Zerstörung von Völkerrecht
(z.B. des UN-Gewaltmonopols, des internationalen Kriegsrechts), durch gravierenden
Bedeutungsverlust der Vereinten Nationen und anderer internationaler Organisatio-
nen. Neoimperiale Tendenzen werden sichtbar.
Die Alternative zu dieser Entwicklung heißt: Gemeinsame Sicherheit aus gegenseiti-
gen Dependenzen, organisiert in durch Interessenausgleich ermöglichten Partner-
schaften und in regionalen Sicherheitssystemen. Die Bundesrepublik kann diese
Alternative entscheidend fördern, wenn sie klar und führend als Zivilmacht er-
kennbar ist, in und für Europa und weit darüber hinaus.
Eine so definierte Außen- und Sicherheitspolitik erfordert grundsätzliche politische
Entscheidungen über ihre Zielpunkte und ihre Prioritäten:
Leitbild für die zukünftige internationale Rolle der Bundesrepublik Deutsch-
land darf nicht die „normale Mittelmacht" mit globalem Ehrgeiz sein, wie
sie Großbritannien und Frankreich darstellen. Deutschland darf auch nicht
wegen Fehlens eines klaren Rollenkonzepts in eine solche „normale Mittel-
macht"-Rolle hineinschliddern. Eine solche Rolle wird aber inzwischen zu-
nehmend von deutschen politischen Kräften angestrebt.
Leitbild für die zukünftige internationale Rolle der Bundeswehr kann deshalb
nicht eine Bundeswehr mit globalen Fähigkeiten sein. Mögliche Einsatzge-
biete der Bundeswehr außerhalb des NATO-Bereichs müssen be-
schränkt werden auf Europa und - unter klar definierten Voraussetzun-
gen - auf die unmittelbaren Randzonen Europas (Mittelmeer einschließ-
lich Mittelmeerküsten). Ausnahme: Beteiligung der Bundeswehr an UN-
Blauhelmeinsätzen (weltweit). Die Bundesrepublik benötigt keine global
einsatzfähige Hochseeflotte und keine Marineinfanterie für Kampflandungen
gegen fremde Küsten. Die gegenwärtige Planung für eine große global-fähige
Lufttransportflotte muss wesentlich nach unten korrigiert werden.
Die Bundesrepublik Deutschland muss auch allen langfristig möglichen Wegen, die nukleare Teilhabe Deutschlands zu erweitern oder Deutschland sogar
auf den Rang einer „normalen" Kernwaffen-Macht zu heben, eindeutig absagen.
Von der Geschichte nicht nur des 20.Jahrhunderts, von der zentraleuropäischen Lage und vor allem von den jetzt anstehenden internationalen Sicherheitsproblemen her ist die Kernaufgabe deutscher Außen- und Sicherheitspolitik heute: Aufbau und Stärkung von deutschen, europäischen
und außereuropäischen Vermittlungs- und Brückenfunktionen, von zivilen Konfliktlösungspotentialen.
Übergeordneter Zielpunkt der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik und
vorrangiges Einsatzgebiet der Ressourcen deutscher Außenpolitik (das
sind Personal, Finanzmittel, Kommunikations- und Kooperationsbeziehungen,
Beratungstätigkeit, Vertrauensbildung) muss - neben der Wahrung unmittelbarer deutscher Interessen - die Errichtung und Unterstützung von regionalen Sicherheitssystemen sein, um die Politik militärischer Interventionen
durch einen „Welthegemon" überwinden zu können,
also:
Aufbau der dafür erforderlichen Institutionen: Rechtsentwicklung, zugehörige
internationale politische Rahmenstrukturen, regionale Mediationsinstrumente,
zivile Friedensdienste, regionale Gerichtsbarkeit und Sanktionsstrukturen, einschließlich regionaler/internationaler Polizei, Personalaufbau.
Die Bundesrepublik sollte ihr politisches und wirtschaftliches Gewicht in Europa, insbesondere in der Europäischen Union, nutzen, um in Europa diejenigen politischen Kräfte und Regierungen zu ermutigen, die bereit sind,
dem Aufbau und der Förderung regionaler Sicherheitssysteme Priorität
zu geben. Die Anstrengungen für die Errichtung von „Konferenzen für Sicherheit und Zusammenarbeit" im Mittelmeerraum und im Gebiet Mittlerer
Osten/Mittelasien müssen wesentlich verstärkt werden.
Die Bundesregierung muss eine breite internationale Initiative für die Revitalisierung und Weiterentwicklung der UNO einleiten, auch damit endlich
beschleunigt Wege zu einem auf Dauer gerechteren internationalen Wirtschafts- und Finanzsystem zugunsten der Dritten Welt beschritten werden
können.
Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik muss mit allen Kräften der fortschreitenden Aushöhlung und dem Zerfall des Völkerrechts, insbesondere des Gewaltmonopols der Vereinten Nationen, entgegenwirken. Die Grenze zwischen
Krieg und Bekämpfung von internationalem Terrorismus muss erhalten bleiben. Selbstmandatierung darf nicht internationales Gewohnheitsrecht werden.
Es kann nicht sein, dass sich die UNO zur Reparatureinrichtung für den durch
Militärinterventionen entstandenen Schaden entwickelt.
Die Finanzmittel für die zivile Komponente der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik müssen wesentlich erhöht werden. Erforderlich ist eine kritische
Bestandsaufnahme aller Aktivitäten und Ressourcen. Dazu gehört auch eine
transparente Grob-Bilanzierung der finanziellen Kosten-Nutzen-
Verhältnisse bei Entwicklung, Aufbau und Einsatz einerseits von zivilen
Mitteln (klassische Außenpolitik bis zu Szenarien moderner Konfliktprävention), andererseits von unterschiedlichen militärischen Mitteln (einschließlich Kriegs- und Wiederaufbaukosten). Notwendig ist daran anschließend eine
Überprüfung der Reformkonzepte für die Bundeswehr.
Betrachtet man den Gesamtaufwand, den die Bundesrepublik heute für Diplomatie,
Finanzierung internationaler Institutionen, Kreditfinanzierung von Wiederaufbau, die
Entwicklungshilfe und die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen treibt, zeigt sich, dass
Deutschland sich stärker als andere vergleichbare Staaten für zivile Stabilitätsförderung engagiert. Diese Tatsache ist unserer politischen Elite nicht hinreichend bewusst.
Damit erhöht sich die Gefahr, dass sich die Bundesrepublik auf einen Kurs steigender
Militarisierung der Außenpolitik begibt.
Wir brauchen endlich die öffentliche Diskussion über die heute realistischen
- zivilen und militärischen - Bedrohungsszenarien, über die als Antwort auf
diese Bedrohungen tatsächlich angemessenen und unangemessenen sicherheitspolitischen Konzepte und Instrumente, über ihre möglichen Konsequenzen, über die zu mobilisierenden Ressourcen, und über die Entwicklung des
Völkerrechts.
Diese Diskussion darf nicht absehen von der festen Einbindung der deutschen
Außen- und Sicherheitspolitik in den Rahmen der Europäischen Union, vom
Aufbau der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Sie
wird auch nicht davon absehen, dass die europäischen Staaten und die USA
gegenseitig auf eine immer neu zu definierende partnerschaftliche Kooperation angewiesen sind. Aber die Kernfrage der Debatte lautet für den Bürger
der Bundesrepublik: Wofür/wann/wo/unter welchen Bedingungen/auf
welcher Rechtsgrundlage sollen deutsche Streitkräfte gegebenenfalls
eingesetzt werden? Welche militärischen Fähigkeiten sind in diesem
Rahmen notwendig? Was kann und muss der deutsche Beitrag zur zivilen Komponente der Sicherheitspolitik sein? Wenn dieser Debatte weiter
ausgewichen wird, werden sicherheitspolitische und politische Schlüsselentscheidungen des Bundestages weiter mit sachfremden Begründungen gefasst
werden (letztes Beispiel: Militär-Airbus A400M) mit der Folge eines weiter
schrumpfenden Vertrauens der Bürger in das Parlament.
Dr. Walter Romberg